Interview mit Dr. Thorsten Reichel zur Energiekrise

Veröffentlicht am: 19.09.2022

 

An den Beschaffungsmärkten steigen die Preise für Energie ins Unermessliche, Russland liefert kein Gas mehr, im Winter droht ein Gasmangel: Privathaushalte, Gewerbe und Industrie sind verunsichert und sie sorgen sich angesichts der höheren Lebenshaltungskosten. Energieversorger müssen sich auf eine Situation vorbereiten, die es so noch nie gab. Wie die Stadtwerke Bad Nauheim mit der Krise umgehen, welche Chancen sie darin sehen und wie sie die Maßnahmen der Bundesregierung bewerten, darüber haben wir mit dem Geschäftsführer der Stadtwerke Bad Nauheim, Dr. Thorsten Reichel, gesprochen.

 

Herr Dr. Reichel, wie geht es Ihnen in der aktuellen Situation?

Insgesamt ist die Situation bedrückend, es kommen Preissteigerungen, die für Privathaushalte und Gewerbetreibende belastend sind. Wirtschaftlich steuern wir im nächsten Jahr wahrscheinlich auf eine Rezession zu und die Staatsverschuldung wird weiter steigen. Das alles ist eingebettet in einen Wirtschaftskrieg, der gegen uns geführt wird, und von dem wir aktuell nicht absehen können, wie und wann er endet. Hinzu kommt, dass sich Energieversorger wie die Stadtwerke Bad Nauheim auf eine physische Gasmangellage vorbereiten müssen; das ist eine Situation, die es so seit Bestehen der Bundesrepublik noch nie gab. Wir haben unser Bestes getan: zum Beispiel mit Geschäftskunden mögliche Abschaltpläne erarbeitet und verschiedene Szenarien durchgerechnet. Am wichtigsten ist uns bei Eintritt eines solchen Falls, mindestens die Versorgung sensibler Einrichtungen aufrechterhalten zu können.

 

In welcher Ausprägung müssen sich die Haushalte in Bad Nauheim auf Preiserhöhungen einstellen?

Ab November kostet Gas mehr. Das liegt einerseits an den beiden Gasumlagen, die von der Bundesregierung zur Stabilisierung des Marktes zum 1. Oktober eingeführt wurden. Diese führen wir in voller Höhe an den Staat ab. Außerdem zahlen auch wir deutlich mehr für den Einkauf von Gas. Diese Mehrkosten spiegeln sich ebenfalls in den neuen Verbraucherpreisen wider. Durch Umlagen und Mehrkosten werden sich die Gaspreise ab November in allen Tarifen um etwa sieben Cent pro Kilowattstunde inklusive Mehrwertsteuer erhöhen, das entspricht ziemlich exakt einer Verdoppelung. Für einen Beispielhaushalt mit drei Personen und einem Verbrauch von 20.000 Kilowattstunden im Jahr sind das Mehrkosten von knapp 130 Euro im Monat. Das ist viel. Dabei haben wir mit spitzem Stift kalkuliert, weil es uns wichtig ist, unsere Kunden weiterhin so günstig wie möglich zu versorgen und sie zu entlasten, wo wir können.

 

Viele Versorger haben bereits zum Oktober ihre Preise für Strom und Gas erhöht, wir zögern das bei Gas auf den November hinaus und werden die Strompreise erst im neuen Jahr an die aktuelle Markt- und Kostensituation anpassen. Dass wir das finanziell schaffen, liegt daran, dass wir die Energiemengen für unsere Kunden risikoarm und vorausschauend beschaffen. Wir kaufen sie in Tranchen ein und beginnen damit schon Jahre vor der Belieferung. Deshalb schneiden wir insgesamt im Preisvergleich mit anderen Versorgern auch nach der Preiserhöhung gut ab.

 

Wo können ihre Kunden ihren Gasverbrauch einsehen?

Dafür gibt es unser Kundenportal auf der Website der Stadtwerke. Unter www.stadtwerke-bad-nauheim.de kann man sich mit seiner Kundennummer einwählen und seinen Gesamtverbrauch der Heizperiode einsehen. Auch der eigene Verbrauch der Vorjahre ist dort ersichtlich.

 

Was ist für Sie in der aktuellen Situation am schwierigsten auszuhalten?

Die Energiepolitik der letzten Jahre hat die Energiewende mehr behindert als beschleunigt. Deutschland hat sich viel zu abhängig gemacht von einem Importland. Man hätte viel mehr Diversität auf dem Energiemarkt schaffen müssen. Der Ausbau der Erneuerbaren wurde quasi abgewürgt, sowohl im Solar- als auch im Windbereich. Windkraftanlagen im Bundesland Hessen haben einen durchschnittlichen Genehmigungszeitraum von fünf Jahren. Das zeigt, dass hierauf keine Priorität gelegt wurde. Die entsprechenden Zubauraten sind hinlänglich bekannt. Stattdessen wurde alles gegen das günstige Gas aus Russland gerechnet. Die Konsequenz aus dieser Einseitigkeit, der kurzfristigen Kostenbetrachtung und vermeintlichen Sicherheit erleben wir jetzt.  

 

Wie schätzen Sie die Maßnahmen der Bundesregierung in der Krise ein?

Bereits im Juni hat Uniper angekündigt, die Kosten von 50 Millionen am Tag in Kürze auf die Versorger umzuwälzen. Dies hätte ein Sterben zahlreicher Stadtwerke bedeutet, was den Zusammenbruch der Versorgungskette bei Gas nach sich gezogen hätte. Die Bundesregierung hat hier schnell und konsequent gehandelt und mit der Gasumlage und ihrem Einstieg bei Uniper das Problem am Ursprung gelöst. Auch wenn die Umlage handwerkliche Fehler hat, ist sie vom Grunde her richtig. Zudem hat die Bundesregierung schnell und konsequent die Gasspeicher unter die eigene Regie gestellt und mit der Gaseinspeicherung begonnen; parallel dazu hat sie über andere Länder wie Norwegen und die Niederlande entsprechende Zusatzmengen generiert. Die guten Füllstände der Gasspeicher belegen den Erfolg der Maßnahmen. Mein Fazit ist, dass die Bundesregierung gut und konsequent die richtigen Schritte gegangen ist und auch jetzt mit den Entlastungspaketen geht. Außerdem wurden auf EU-Ebene gute Lösungsansätze erarbeitet: So gibt es bereits einen Verordnungsentwurf für die Deckelung des Gaspreises bei 200 Euro pro Megawatt und für Steuern auf Übergewinne.  

 

Russland hat aktuell die Gaslieferungen über Nordstream I eingestellt. Kommt jetzt die Notfallstufe?

Die Bundesnetzagentur hat mit verschiedenen Szenarien gezeigt, dass nur ein sehr milder Winter die Notfallstufe verhindern könnte. Deshalb glaube ich, dass sie kommen wird. Noch unklar ist, wie sich die Notfallstufe auf das Gesamtnetz auswirken wird. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir die Versorgung sensibler Verbraucher auch dann hinbekommen, wenn weniger Gas fließt: Wir stellen uns jetzt auf die Situation ein, beraten und treffen entsprechende Vorsorgen.

 

Was passiert in Bad Nauheim, falls die Notfallstufe ausgerufen wird? Wie haben sich die Stadtwerke darauf vorbereitet?

Es gibt einen Stufenplan von der Bundesregierung, nach dem wir uns vorbereitet haben. Zum Beispiel haben wir unsere Gaskunden in Cluster aufgeteilt und geprüft, welche Geschäftskunden beispielsweise auf Öl umstellen können und welche Anlagen im Fall des Falls vom Netz genommen werden müssen. Hier in Bad Nauheim haben wir die Sondersituation, dass wir fast nur Kunden haben, die laut Gesetz zu den besonders schützenswerten Verbrauchern zählen.  

 

Wie bewerten sie es, dass jetzt Kohle- und Atomkraftwerke aus der Reserve geholt werden?

Das ist unvermeidlich und der Situation geschuldet. Wichtig ist, dass wir die Energieautarkie weiterverfolgen. Wir können die Energiewende schaffen, wenn wir die bürokratischen Hürden abbauen. Die Krise hat dazu beigetragen, dass es mehr Akzeptanz für die Energiewende gibt, ob im privaten Bereich oder bei Gewerbebetrieben. Wir bei den Stadtwerken prüfen alle realisierbaren Effizienzmaßnahmen. Wir bekommen aktuell enorm viele Anfragen für Photovoltaikanlagen, auch Investoren im Gebäudebereich wollen nun komplett autark werden. Wichtig ist: Trotz Fachkräftemangel und Engpässen beim Material sollte man sich jetzt darum kümmern. Denn die langen Wartezeiten werden uns noch eine Weile begleiten.

 

Gibt es bereits ein erhöhtes Beratungsaufkommen im Kundencenter?
Das Beratungsinteresse ist sehr hoch. Deshalb stocken wir aktuell das Personal im Service auf und schulen auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus anderen Bereichen, damit sie die Kollegen im Kundencenter unterstützen können. Wegen des hohen Aufkommens bieten wir die Beratung jetzt nach Terminvereinbarung an. Das hilft uns, die Anfragen strukturiert und zügig zu beantworten und beiden Seiten einen planbaren Zeitraum zu bieten. Auch haben wir sehr gute Informationsmaterialien und einen Flyer mit Energiespartipps.

 

Was tun die Stadtwerke Bad Nauheim, um Verbraucherinnen und Verbraucher vor hohen Nachzahlungen zu schützen?
Energiesparen ist das Gebot der Stunde und alle sind dazu aufgerufen. Praxisnahe und effektive Tipps gibt unser Flyer, der in vielen öffentlichen Gebäuden in Bad Nauheim ausliegt. Er zeigt auch die prozentuale Wirkung der einzelnen Maßnahmen. Trotz aller Einsparungen wird man die Mehrkosten aber nicht ganz kompensieren können. Um unsere Kundinnen und Kunden vor hohen Nachzahlungen bei der Jahresabrechnung zu schützen, werden wir in Kürze deshalb die monatlichen Abschlagszahlungen erhöhen. Hierzu informieren wir alle vorab schriftlich. Keinesfalls sollte man seinen Abschlag eigenständig erhöhen, da dies zu einer Doppelung führen wird.


Elektrische Heizlüfter sind so gut wie ausverkauft. Taugen diese als Ersatz für die Gasheizung oder kann man damit Heizkosten sparen?
Das Heizen mit elektrischen Heizlüftern ist wirtschaftlich überhaupt nicht sinnvoll. Im Gegenteil. Außerdem warne ich noch aus einem anderen Grund ausdrücklich davor, von der Gasheizung auf Strom-Heizlüfter umzusteigen: Wenn viele in einem Straßenzug gleichzeitig einen Heizstrahler anwerfen, kann es zu Schwankungen im Stromnetz und im schlimmsten Fall zu Stromausfällen kommen.

 

Sie rufen zum Energiesparen auf – gehen Sie bei den Stadtwerken mit gutem Beispiel voran?
Wir haben bei den Stadtwerken eine Stabsstelle Nachhaltigkeit gegründet und einen Katalog mit Maßnahmen erstellt, die wir jetzt konkret umsetzen. So senken wir zum Beispiel die Raum- und Wassertemperaturen und sparen an Beleuchtung. Schon vorher haben wir zum Erreichen unserer Klimaneutralität vieles realisiert, zum Beispiel haben wir die Fahrzeugflotte des Unternehmens auf E-Fahrzeuge umgestellt.

 

Und was tun Sie persönlich? Ihr wirkungsvollster Tipp?
Im privaten Bereich reduzieren wir die Heiztemperatur von 21 auf 19 Grad und haben uns beim Duschen daran gewöhnt, zwischendurch das Wasser abzudrehen. Es sind viele kleine Dinge, die in der Summe ihre Wirkung zeigen. Effektiv und wichtig sind die richtige Einstellung der Heizung und ein hydraulischer Abgleich.

 

Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels?

Absolut! Wir befinden uns zwar aktuell in einer Krise, aber diese wird irgendwann auch wieder zu Ende sein. Wir werden das bewältigen! Außerdem: Diese Krise ist auch eine Chance, denn wir alle haben erkannt, dass wir energieautark werden müssen und das nur über die Energiewende zu schaffen ist. Sie hat im Großen und im Kleinen Sinn – sowohl aus Klimaschutzgründen als auch aus wirtschaftlicher Perspektive.

 

Auf Gewerbebetriebe kommen einige harte Monate zu, doch jetzt ist die Zeit gekommen, sich um die eigene Energieunabhängigkeit zu kümmern, ob mit Photovoltaik, Wärmepumpen oder E-Mobilität. Bei den Stadtwerken spüren wir viel Aufwind für unsere Dienstleistungen und innovativen Ansätze: Wir prüfen beispielsweise die Wärmenutzung aus der Sole sowie aus Abwärme über Kläranlagen und der Kanalisation. Technisch kriegen wir das alles hin. Für die Bürgerinnen und Bürger wird es Lösungen geben. Wir halten sie informiert und begleiten sie.  
 

Die Krise zwingt uns jetzt zum Umbau der Energieversorgung und ich bin davon überzeugt, dass wir ihn nun auch schaffen. Die Bundesregierung hat entsprechende Gesetze auf den Weg gebracht, um beispielsweise die bürokratischen Hürden bei den Genehmigungsverfahren für die Windkraft abzubauen. Es gelingt uns ja schon jetzt, die Gasspeicher schneller zu befüllen als geplant und auch die Flüssiggasterminals früher an den Start zu bringen. Das alles wird dazu beitragen, die Märkte zu stabilisieren und zu entspannen.

 

Jetzt müssen wir die Zähne zusammenbeißen, aber es wird auch irgendwann wieder vorbei sein. Bis dahin werden wir im Großen und im Kleinen in Deutschland viel Gutes auf den Weg gebracht haben.

Dr. Thorsten Reichel - Geschäftsführer Stadtwerke Bad Nauheim

Dr. Thorsten Reichel - Geschäftsführer Stadtwerke Bad Nauheim